Novemberpogrom in Süchteln

In der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938, in der Reichspogromnacht, wurden vom nationalsozialistischen Regime Gewaltmaßnahmen gegen Juden im Deutschen Reich durchgeführt. Damit begann die systematische Verfolgung der Juden, die wenige Jahre später in ihre Ermordung mündete.

Was geschah in Süchteln? Es gibt dazu nur wenige Quellen, wie Polizeimeister Weyers  am 19.4.1948 in seinem Abschlussbericht feststellte:

„Amtlicherseits liegen hier bei der Polizeistation Süchteln keine Unterlagen über die Aktion gegen die Juden im November 1938 mehr vor. Die Tätigkeitsbücher und sonstige schriftliche Nachweisungen, die vielleicht Auskunft darüber geben könnten, sind bei dem Einmarsch der amerikanischen Truppen im Heizungsofen des Rathauses in Süchteln verbrannt worden.“

Quelle: Polizeimeister Weyers am 19.4.1948, Landesarchiv NRW Gerichte Rep.0010-00185.

Er stellte fest, dass sich kaum jemand der Süchtelner Bevölkerung an die Taten erinnern will: „Die Anwohner wollen sich heute auf genaue Einzelheiten nicht mehr entsinnen können.“

Deswegen sind die Zeugenaussagen, die für den Prozess vor dem Schwurgericht Mönchengladbach im Jahre 1950 zusammengetragen wurden, umso bedeutsamer: dieser Prozess fand zwölf Jahre nach der Pogromnacht  in der „Königsburg“ in Süchteln „gegen sechs frühere Angehörige der SS bzw. SA aus Süchteln, die unter der Anklage stehen, sich an der Judenaktion vom 10. November 1938 aktiv beteiligt zu haben“, statt:

„Ein großes Aufgebot von Belastungs- und Entlastungszeugen soll Klarheit in die nun schon 12 Jahre zurückliegenden Vorgänge bringen“

Quelle: Rheinische Post 17.6.1950.

Lassen wir einige Zeugen zu Wort kommen…

Emil Wersch, der in der Hochstraße 11 in Süchteln ein Friseurgeschäft führte:

„Meinem Geschäft gegenüber befand sich das Wohnhaus der jüdischen Familie Baum. Plötzlich erschienen mehrere Personen in SA- bzw. SS-Uniform. Diese Männer kamen auf Fahrrädern an. Nachdem sie von ihren Rädern gestiegen waren, begaben sie sich zu dem genannten Haus des Rabbiners Baum und schlugen die Fensterscheiben ein. Nachdem sie die Fensterscheiben eingeschlagen hatten, entfernten sie sich. Einige Zeit später hörte ich Schüsse fallen. Ich begab mich wieder zu meinem Schaufenster und sah, wie sich wieder eine Gruppe uniformierter Parteileute in die Nähe der Wohnung des Rabbiners begaben. Von der Straße aus schossen sie in die Wohnung hinein. (…) Der einzige (,) den ich erkannte, ist der im Vorgang genannte SS-Mann Hunold. Nachdem sie die Wohnung beschossen hatten, verließen sie wieder den Ort. Von weiteren Ausschreitungen habe ich nichts gesehen, da ich mein Geschäft nicht verlassen habe (…)“

Quelle: Zeugenaussage von Emil Wersch bei der Polizeistation Süchteln am 31.3.1948, Landesarchiv NRW Gerichte Rep.0010-00185.

Hermine Tourna, Ehefrau des Friseurs Tourna, die im Erdgeschoss des jüdischen Gebetshauses in Süchteln in der Hindenburgstraße wohnte:

„Es kann am 9. oder 10.11.1938 gewesen sein, als in den Vormittagsstunden plötzlich ein Kraftwagen mit SA- bzw. SS-Leuten vor unserem Haus erschien. Diese begaben sich sofort in den Betsaal und hielten dort Umschau. Nachdem sie festgestellt hatten, dass im Betsaal bereits alles zertrümmert worden war, verließen sie wieder unser Haus und fuhren davon. Bemerken muss ich jetzt, dass bereits einige Stunden vorher von mir unbekannten SA- und SS-Leuten der Betsaal demoliert worden war. (…) Nachdem der Rabbiner durch meinen Mann in blutigem Zustand in unsere Wohnung gebracht worden war, erzählte er mir u.a., dass er von dem Beschuldigten Pascher geschlagen bzw. mit Füßen getreten worden sei (….)“ (Zeugenaussage von Hermine Tourna bei der Polizeistation in Süchteln am 31.3.1948).

Quelle: Hermine Tourna, Landesarchiv NRW Gerichte Rep.0010-00185.

Friseur Tourna, der im Erdgeschoss des Jüdischen Gebetshauses sein Geschäft hatte:

„Während ich in meinem Betrieb tätig war, hörte ich plötzlich von draußen Lärmen und Schreien. Ich begab mich sofort in den Hausflur und sah den Rabbiner Baum am Boden liegen. Ich wurde von einer Anzahl Männer bedrängt. Ich stellte sofort fest, dass Baum im Gesicht blutete. Es ist mir nicht möglich, einen der Beteiligten namentlich anzugeben. Nachdem es mir gelungen war, die Männer aus dem Hausflur herauszudrängen, schloss ich die Türe ab. Ich habe mich hiernach um den verletzten Rabbiner bemüht und ihn in meine Wohnung gebracht (…)“ (Zeugenaussage des Friseurs Ernst Tourna bei der Polizeistation Süchteln am 31.3.1948)

Quelle: Landesarchiv NRW Gerichte Rep.0010-00185.

Zeugin Maria Biesen, die am Lindenplatz 5 in Süchteln wohnte,  am 19.3.1949:

„(…) wie der Rabbiner B a u m  aus der Synagoge kam und in Richtung Krefelderstraße ging. Er blutete und hielt sich ein blutgetränktes Taschentuch vor den Mund. (…) Kaum an meiner Wohnung angekommen, gewahrte ich dann auch (,) dass sich eine große Menschenmenge  vor der Wohnung des Bruders des Rabbiners B A U M  versammelte. Unter dieser Menge befanden sich auch wieder P A S C H E R mit mehreren Männern in SA- bzw. SS-Uniform. Als P A S C H E R  bis an das Telephonhäuschen gekommen war, hob er sein Bein hoch und besah seine Hose. Dabei sagte er laut, so dass ich es deutlich gehört habe:“ Gucken sie doch, da habe ich mir doch noch durch diesen verdammten, schmierigen Juden die ganze Hose kaputtgerissen (…).“

Quelle: Landesarchiv NRW Gerichte Rep.0010-00185.

Die Zeugin Juliane Klevers, die in Süchteln am Westwall wohnte, berichtete am 25.3.1949:

„Vor dem Haus des Juden Jakob Liefges in der Nähe des Weberbrunnens stand eine größere Menschenmenge. In dem Hause der Liefges waren mehrere uniformierte SA oder SS Angehörige. Ich sah (,) wie aus dem Fenster des ersten Stockwerkes Lebensmittel wie Eier und Nährmittel in größeren Mengen aus dem Fenster auf die Straße geworfen wurden. Auch Möbelstücke wurden aus dem Fenster geworfen und zertrümmert. (…) Über das Verhalten der SS- u. SA- Angehörigen war ich erbost, konnte aber nichts sagen, weil mir gesagt worden war, ich dürfte nicht schimpfen, weil in der Menge viele Kriminalbeamte aufpassen (…).“

„Bei den Vorgängen im November 1938 war der Beschuldigte Pascher und 4 weitere Männer mit Namen Driessen, Schnäbler, Hunold und Wefers maßgebend beteiligt. Alle waren in SS-Uniform bzw. In SA-Uniform. Pascher war in SS-Uniform. Diese Personen und noch viele andere Parteileute sind damals in die Häuser der Juden eingedrungen, haben dort alles Inventar zerschlagen und die Juden misshandelt und durch die Straßen geführt. Wefers und Driessen haben (…)bei dieser Gelegenheit auch von draußen in die Judenwohnungen hineingeschossen. Ich habe selbst gesehen, dassdie Eheleute Liefges gefesselt über die Straße geführt wurden. Der Ehemann Liefges wurde dabei schwer geschlagen. Ich habe ferner gesehen, dass der etwa 80 Jahre alte Rabbiner Baums auf der Straße lag und sich ein Taschentuch vor den Mund hielt, das mit Blut getränkt war. Baum sagte noch, man sollte ihn in Ruhe lassen, er sei doch bereits 80 Jahre alt. Bei diesen Gelegenheiten war Pascher beteiligt. Ich weiß aber nicht, ob er geschlagen hat, habe dies auch nicht gesehen. Die Frau Turna hat mir jedoch erzählt, dass der Beschuldigte den am Boden liegenden Rabbiner Baum getreten hätte, nachdem er ihn vorher die Treppe hinuntergeworfen hatte (…)“.

Quelle: Zeugenaussage von Maria Biesen, die am Lindenplatz 5 in Süchteln wohnte,  beim Amtsgericht in Viersen am 3.März 1948, Landesarchiv NRW Gerichte Rep.0010-00185.