Familie Marx zwischen Diplomatie, Hoffnung und Vernichtung

Sie glaubten an Schutz durch Bildung, Wohlstand und Vaterlandstreue – doch das rettete sie nicht. Nur die Tochter überlebte, über einen Kindertransport nach England.

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Herkunft und Aufstieg: Zwei Lebenswege kreuzen sich in Paris

Leopold Marx kam 1882 in Dülken als Sohn des Metzgermeisters Markus Marx und dessen Frau Amalia zur Welt. Er entstammte einer kinderreichen jüdischen Familie, die in Dülken gut vernetzt und wirtschaftlich etabliert war. Sieben Geschwister sind bekannt, darunter Rosette und Eva, die später ebenfalls Opfer der Shoah wurden. Auch das Haus Viersener Straße 47, das später zum Lebensmittelpunkt der Familie wurde, war bereits seit Anfang des 20. Jahrhunderts im Besitz der Familie Marx.

In jungen Jahren zog es Leopold ins Ausland. Er wurde Junior-Diplomat in Paris, ein außergewöhnlicher Karriereweg für einen Juden aus der Provinz. Dort lernte er Erna Lifges kennen, eine gebildete junge Frau aus Süchteln. Auch sie arbeitete in Paris, als Korrespondentin.

Paris, die Stadt der Liebe, war damit nicht nur der Ort ihres Kennenlernens, sondern auch Ausgangspunkt eines gemeinsamen Weges, der bald von Deutschland aus in eine ungewisse Zukunft führen sollte.

Familie, Heimkehr und Glaube an Sicherheit

Nach der Hochzeit kehrten Leopold und Erna nach Deutschland zurück. 1925 kam ihre Tochter Gisela Amalie zur Welt. Die Familie lebte zunächst zur Miete in der Viersener Straße 45, später im Nachbarhaus Nr. 47, das sich im Besitz der Familie befand. Es war ein großzügiges Wohnhaus, das später zum „Judenhaus“ und – nach der Zerstörung der Synagoge in der Reichspogromnacht – zum Ersatz-Bethaus wurde. Nicht nur die eigene Familie, sondern auch weitere jüdische Dülkener fanden dort Zuflucht, Geborgenheit und einen letzten Rest religiösen Zusammenhalts.

Leopold hatte im Ersten Weltkrieg gedient und war Träger des Eisernen Kreuzes, ein Umstand, der ihm und seiner Familie zunächst ein Gefühl von Schutz vermittelte. Auch ihr Status, ihre Bildung, ihr Patriotismus – all das ließ die Eheleute hoffen, von den zunehmenden antisemitischen Repressionen verschont zu bleiben. Diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Die Einschüchterungen, Gesetzesverschärfungen und Ausgrenzungen nahmen stetig zu. Doch trotz der wachsenden Gefahr hielten sie an ihrem vertrauten Leben fest. Vielleicht auch deshalb, weil sie an das Gute im Staat glaubten, der ihnen einst Aufstieg ermöglicht hatte.

Deportation und Ermordung in Riga

Am 11. Dezember 1941 wurden Leopold und Erna Marx gemeinsam ab Düsseldorf ins Ghetto Riga deportiert. Während sich Leopolds Spur hier verliert, wird Erna am 28.10.1944 nach Polen weiter deportiert. Dort verliert sich auch ihre Spur. Die Eheleute Marx wurden ermordet, wie so viele andere deutsche Jüdinnen und Juden, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Ihre Namen finden sich in den Deportationslisten, ihre letzten Lebenszeichen sind verwaltungstechnische Akten.

Bevor sie deportiert wurden, übergaben sie Pfarrer Wilhelm Veit in Dülken Wertgegenstände – darunter Schmuck und religiöse Gegenstände („Judaica“) – mit der Bitte, sie ihrer Tochter zu überreichen, sollte die Familie nicht zurückkehren. Der Pfarrer versteckte die Gegenstände in seinem Keller. Als Veit zum Kriegsdienst eingezogen wurde, blieben die Gegenstände auch während seiner Abwesenheit unentdeckt. Seine mutige Hilfe rettete ein kleines Stück Familiengeschichte. Dass ein christlicher, konkret hier ein evangelischer Geistlicher jüdische Kultgegenstände aufbewahrte, war ein Ausdruck von Zivilcourage, wie er in jener Zeit viel zu selten war.

Alphabetisches Verzeichnis: Deportation von Jüdinnen und Juden aus dem Gestapobereich Düsseldorf nach Riga am 11.12.1941. "I." hinter männlichen Vornamen stand für "Israel", "S." für Sara - Jüdinnen und Juden waren gezwungen, im Deutschen Reich diesen zusätzlichen Vornamen zu führen.

Gisela: Überleben, Verlust und ein neues Leben

Die Eltern setzten früh alles daran, ihre Tochter zu retten. Am 9. Mai 1939 gelangten sie über Kontakte an einen Platz in einem „Kindertransport“ nach Großbritannien. Gisela, 14 Jahre alt, reiste alleine über Holland nach England, wo sie am 25. August 1939 ankam. Der Kontaktmann, der sie abholen sollte, erschien nie. Völlig auf sich gestellt, sprach sie kein Wort Englisch und lebte zunächst bei einem Rabbi, später in einem Mädchenheim in Lancashire. Dort lernte sie, sich durchzubeißen, Verantwortung zu übernehmen und trotz allem neuen Mut zu fassen.

Sie machte eine Ausbildung zur Krankenschwester, arbeitete während des Krieges in London und dann in einem amerikanischen Militärkrankenhaus. Sie betreute verletzte Soldaten, erlebte Bombennächte, Verlust und Angst. 1946 lebte sie in Oakley Hall in Cirencester, wo sie ein Kunststudium aufnahm. Doch die Vergangenheit ließ sie nicht los. Im selben Jahr reiste sie noch einmal nach Dülken – zu Pfarrer Veit, der ihr die versteckten Erinnerungsstücke ihrer Eltern übergab. Ihre Reise war auch eine Suche nach Antworten, nach einem emotionalen Abschluss dessen, was ihr genommen worden war.

1950 wurde sie per Gerichtsbeschluss als Eigentümerin des Hauses Viersener Straße 47 in das Grundbuch eingetragen. Acht Jahre später verkaufte sie es. Ihre Eltern blieben verschwunden, ermordet. Ihre Kindheit war zerstört. Und dennoch hatte sie sich ein Leben aufgebaut, das von Menschlichkeit, Bildung und Selbstständigkeit geprägt war.

Später emigrierte Gisela in die USA, wo sie als Krankenschwester, Registratorin und Chefsekretärin arbeitete. 1958 heiratete sie John Peter Eden, ebenfalls ein Überlebender eines Kindertransports, ursprünglich aus der Tschechoslowakei. Das Paar lebte in Washington, D.C. Gisela starb im Jahr 2012 im Alter von 87 Jahren. Ihr Lebensweg wurde zu einem stillen Zeugnis dessen, was Hoffnung, Bildung und Erinnerung leisten können.

Die Bemühungen des Pfarrers Veit führten schlussendlich dazu, dass er Gisela die ihm anvertrauten Gegenstände zurückgeben konnte.
Die Bemühungen des Pfarrers Veit führten schlussendlich dazu, dass er Gisela die ihm anvertrauten Gegenstände zurückgeben konnte.
Wie viele Überlebende suchte Gisela nach dem Krieg ihre Eltern. Schon im Oktober 1945 bekam sie die Gewissheit der Deportation, auch wenn das hier angegebene Ziel (Theresienstadt) nicht zutreffend war.
Wie viele Überlebende suchte Gisela nach dem Krieg ihre Eltern. Schon im Oktober 1945 bekam sie die Gewissheit der Deportation, auch wenn das hier angegebene Ziel (Theresienstadt) nicht zutreffend war.

Erinnerung und Vermächtnis

Heute erinnern Stolpersteine vor dem Haus Viersener Straße 47 an Leopold, Erna und Gisela Marx. Das Leben der Eltern war geprägt von Bildung, Aufbruch und der Hoffnung, dass Menschlichkeit und Herkunft in Deutschland miteinander vereinbar seien. Dass sie trotz aller Verdienste und Verwurzelung Opfer der Shoah wurden, ist Mahnung und Vermächtnis zugleich.

Ihre Tochter Gisela bewahrte nicht nur die Gegenstände der Eltern auf, sondern auch ihre Geschichte – durch Rückerstattungsanträge, durch ihr Erinnern und ihr Erzählen. Einige ihrer Besitztümer, darunter ein Teddybär aus Kindertagen, sind heute im Holocaust Museum in Washington ausgestellt. Sie stehen dort nicht nur für das Leben eines jüdischen Kindes, sondern für den Mut einer Generation, die trotz allem nicht vergessen wurde.

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