„Der 10. November 1938 vor Gericht“ in der Königsburg

Zwölf Jahre, nachdem die Nationalsozialisten in der Reichspogromnacht am 9./10.11.1938 im Deutschen Reich – früher beschönigend „Reichskristallnacht“ – die jüdische Kultur, insbesondere jüdische Synagogen und Geschäftsräume, zerstört hatten, fand am 16. Juni 1950 in Süchteln im Hotel „Königsburg“ in der Hochstraße 13 die Haupt- und Abschlussverhandlung des Schwurgerichts in Mönchengladbach „wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ in Anwesenheit von zahlreichen Zuhörern statt.

Der langjährige Prozess „gegen sechs frühere Angehörige der SS bzw. der SA aus Süchteln, die unter der Anklage stehen, sich an der Judenaktion vom 10. November 1938 aktiv beteiligt zu haben“, wie die Rheinische Post am 17.06.1950 berichtete, wurde damit beendet.

Den Vorsitz hatte der Direktor des Landgerichtes in Mönchengladbach, Dr. Schöllgen. Die Angeklagten wurden einzeln vernommen und bestritten „sämtlich, sich aktiv an den damaligen Vorgängen – Demolierung des Betsaales der Süchtelner Synagoge, Zerstörung der Wohnungseinrichtungen bei Jakob Lifges, Geschwister Baum und Leopold Baum beteiligt zu haben.

Das Opfer Leopold Baum als Gast bei der Eröffnung der Süchtelner Waldkampfbahn 1927.

Der Angeklagte Pascher, der als erster vernommen wurde, erklärte, den Vorgängen im Hause Lifges nur von der Städtischen Sparkasse aus zugesehen zu haben. Der Angeklagte Drießen behauptete das gleiche und will die Aktion innerlich verurteilt und als „Blödsinn“ angesehen haben. Der Angeklagte Schnäbler, der damals bei den städtischen Werken beschäftigt war, gab an, auf den telefonischen Anruf eines Mieters aus dem Hause Lifges mit noch zwei städtischen Arbeitern in das betreffende Haus gegangen zu sein, um dem gemeldeten Gasgeruch nachzugehen. Der Angeklagte Wefers stritt ebenfalls jede aktive Teilnahme an der Aktion ab. Er habe den Auftrag gehabt, die SA zu alarmieren. Als er mit seinem Trupp vor dem Hause Lifges ankam, flogen bereits Gegenstände aus dem Fenster, worauf er den SA-Leuten den Befehl gegeben habe, sich zurückzuhalten. Er selbst sei im Hause nur bis zur Treppe gewesen. Der Angeklagte Hunold will auch nur zunächst bei dem großen Haufen gewesen sein; dann sei er vom Bürgermeisteramt aus mit zu Lifges gegangen, um dort die Möbel „geradezusetzen“. Er gab zu, lediglich einen Stuhl und ein kleines Regal aus dem Fenster hinausgeworfen zu haben. Der Angeklagte Mieland, der bei den Vernehmungen zugegeben hatte, Eingemachtes und Eier auf die Straße geworfen zu haben, bestritt diese Handlungen nunmehr und gab an, die Aussagen in der Erregung gemacht zu haben.“

Dutzende Zeuginnen und Zeugen, die auch schon 1949 vernommen worden waren, wurden wieder gehört, bevor das Schwurgericht zu folgendem Urteil kam:

„Die Angeklagten Pascher und Wefers wurden zu je 7 Monaten Gefängnis mit Bewährungsfrist bis 1952 sowie zu den Kosten des Verfahrens verurteilt. Gegen Hunold und Mieland wurde das Verfahren eingestellt, weil sie unter das Amnestiegesetz fielen. Drießen und Schnäbler wurden mangels Beweisen freigesprochen“

RP 17.06.1950

Hintergrund: Das „Amnestiegesetz“ ist ein Straffreiheitsgesetz vom 31.12.1949, das einen allgemeinen Straferlass für bestimmte Delikte vorsah und am 1.01.1950 in der BRD in Kraft trat.

Heute befindet sich die „Anklageschrift“ im Landesarchiv in Duisburg. Sie wurde vom Oberstaatsanwalt am 8. Juli 1949 an das Schwurgericht in Mönchengladbach geschickt. Der genaue Wortlaut aus der Anklageschrift…

Zitat Anfang:

  1. Der Schreiner Willi Pascher, Süchteln …,
  2. der Schreiner Peter Driessen, Süchteln …,
  3. der Angestellte Josef Schnäbler, Süchteln …,
  4. der Arbeiter Karl Wefers, Süchteln …,
  5. der Polstermeister Paul Hunold, Hilden …, 6. der Stukkateur Hermann Mieland, Süchteln …, werden angeklagt:

zu Süchteln am 10. November 1938 durch ein und dieselbe Handlung

  1. an der öffentlichen Zusammenrottung einer Menschenmenge teilgenommen zu haben, die mit vereinten Kräften gegen Personen oder Sachen Gewalttätigkeiten beging, wobei sämtliche Angeschuldigten Sachen vernichteten oder zerstörten und der Angeschuldigte Pascher ausserdem Gewalttätigkeiten gegen eine Person, nämlich den Rabbiner Baum, beging,
  2. andere aus politischen und rassischen Gründen verfolgt zu haben,
  3. Pascher mittels eines gefährlichen Werkzeugs mit mehreren gemeinschaftlichen den Rabbiner Baum … vorsätzlich körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit beschädigt zu haben …“

Zitat Ende. (Landesarchiv Duisburg: Gerichte Rep 001000185).

Das Urteil vom 28. Juli 1950 befindet sich ebenfalls im Landesarchiv in Duisburg. Daraus der genaue Wortlaut…

Zitat Anfang:

  1. Der Angeklagte Pascher, der seit 1933 Pg. [Parteigenosse] und damals Rottenführer in der allgm. [allgemeinen] SS war, ist am 10.11.38 zunächst seiner Arbeit in Johannisthal nachgegangen. Zum Mittagessen fuhr er mit dem Fahrrad nach Süchteln und hielt sich … am Marktplatz auf. Hier hörten sie davon erzählen, dass SA. und SS. das jüd. Eigentum zerstörten. Auf eine Frage von Schroers [Schreiner Andreas Schroers aus Süchteln] erklärte Pascher, dass er damit nichts zu tun haben wolle, worauf beide zu ihrer Arbeitsstätte fuhren. In den Nachmittagsstunden befand sich der Angeklagte Pascher jedoch wieder in der Stadt und gesellte sich den SA.- und SS-Leuten zu, die die Wohnung Lifges verwüsten. Ob der Angeklagte hierbei selbst mit Hand angelegt hat, steht nicht fest, doch befand er sich während der Zerstörungsarbeit in der Wohnung Lifges. Dass der Angeklagte Pascher sich an dem Rabbiner Baums [gemeint ist Leopold Baum] vergriffen und den alten Mann misshandelt hat, konnte nicht mit genügender Sicherheit festgestellt werden. … Die Aussage der Zeugin Biesen, die selbst nicht beobachtet hat, dass Pascher den Rabbiner geschlagen hat, genügt dem Gericht trotz stärksten Tatverdachts jedoch nicht, um den Angeklagten dieser Tat zu überführen.
  2. Der Angeklagte Driessen war seit 1933 Angehöriger der SS und der Partei [gemeint ist die NSDAP]. Am 10.11.1938 hörte er beim Mittagessen im Kasino, dass in Viersen und anderen Orten Aktionen gegen die Juden durchgeführt worden seien. Er ging nach dem Essen zur Stadt und kam an dem Hause Liefges [beide Varianten – Lifges und Liefges – werden benutzt] vorbei, als dort gerade Möbel aus dem Fenster geworfen wurden. Ohne selbst etwas zu unternehmen, ging Driessen weiter zum Hause Baums [gemeint ist Baum] hin, wo er sah, dass die Fensterscheiben eingeschlagen waren.
  3. Der Angeklagte Schnäbler war seit 1937 Propagandaleiter in der Ortsgruppe Süchteln. In der Nacht vom 9. zum 10. 11. wurde er von dem Zeugen Horn [Erwin Horn aus Süchteln] gegen 3 Uhr geweckt, der die Nachricht überbrachte, auf Anordnung der Kreisleitung müsse etwas gegen die Juden unternommen werden. Mit der Erklärung, das solle die Kreisleitung selber machen, schickte der Angeklagte Schnäbler den Zeugen Horn nach Hause. Am folgenden Tag versah Schnäbler seinen Dienst bei den städt. Gas- u. Wasserwerken. Nachmittags kam ein telef. [telefonischer] Anruf, dass es im Hause Liefges nach Gas rieche, worauf der Zeuge Liesemann [Willi Liesemann aus Süchteln] mit 2 Arbeitern dorthin fuhr. Kurz darauf erschien bei Schnäbler ein Vertreter der Gaszählerfabrik Elster & Co., Mainz, der den Zeugen Liesemann sprechen wollte. Der Angeklagte Schnäbler fuhr nunmehr mit seinem Fahrrad zur Wohnung Liefges, um den Zeugen Liesemann zu holen. Als Schnäbler das Haus betrat, war dort bereits alles zerschlagen. Nach Erledigung seines Auftrages kehrte Schnäbler zu den Stadtwerken zurück.
  4. Der Angeklagte Wefers war der Führer der SA.-Truppe Süchteln. Am Nachmittag des 10.11.wurde er zum Bürgermeisteramt bestellt, wo er die Gruppe auswärtiger SA.- und SS.-Leute antraf. Er wurde von diesen Leuten über die Judenaktion unterrichtet und erhielt den Auftrag, den örtl. [örtlichen] SA.-Trupp zu alarmieren. Wefers erklärte, dass er diesen Auftrag wegen der beruflichen Abwesenheit seiner Leute von zu Hause nicht durchführen könne. Er ging mit oder hinter den SA.- und SS.-Leuten zum Hause Liefges, das er auch selbst betrat; vorher hatte er 2 SA.-Männer seines Trupps, die er zufällig getroffen hatte, damit beauftragt, die Zuschauer von dem Hause fernzuhalten, damit niemand durch die aus dem 1. Stock fliegenden Möbel verletzt würde. Der Angeklagte Wefers hat dann auch bei der Demolierung der Wohnung mitgewirkt und Lebensmittel zum Fenster hinausgeworfen. Nach der Durchführung des Zerstörungswerkes in der Wohnung Liefges ging der Angeklagte Wefers wieder seine[r] Arbeit [nach].
  5. Der Angeklagte Hunold war seit 1933 Pg. [Parteigenosse der NSDAP] und seit 19?? Rottenführer in der Motor-SS. von Süchteln. Er war an seiner Arbeit in der Anstalt Johannisthal, als ihm der Befehl übermittelt wurde, die SS. solle sich bei der Pol.-Station [Polizeistation] melden. Er zog zunächst seine Uniform an, wurde denn aber dahin belehrt, dass er in Zivil erscheinen müsse. Hunold vertauschte dann den Uniformrock gegen einen Zivilrock und ging zum Bürgermeisteramt. Dort stiess er auf die wiederholt erwähnte Gruppen SA. und SS.-Leuten nebst einer Reihe von Zivilisten. Hunold zog mit dieser Horde zum Hause Liefges, vor dem sich schon eine Menschenmenge versammelt hatte. Der Angeklagte Hunold drang mit in die Wohnung ein und beteiligte sich an der Zerstörung, indem er einen Stuhl und ein Bücherregeal aus dem Fenster warf. Anschliessend zog er mit den auswärtigen [„Räuberbanden“ ist durchgestrichen] in Richtung Marktplatz, wobei er an der Wohnung Baums [gemeint ist Baum] durch einen Steinwurf ein Fenster zertrümmerte.
  6. Der Angeklagte Mieland war seit 1937 Mitglied der Partei [gemeint ist die NSDAP] und seit 1938 in der SA. Er wurde von einem SA.-Kameraden aus der Anstalt Johannisthal geholt mit der Weisung, Uniform anzuziehen und sich am Lindenplatz einzufinden. Mieland folgte diesem Befehl und traf am Lindenplatz auf eine grössere Anzahl von SA.- und SS.-Leuten, mit denen er zur Wohnung Liefges ging. Dort war die Zerstörung schon im Gange, Mieland betrat mit den anderen den Hausflur, ohne sich aber weiter zu betätigen. Anschliessend ging er nach Hause.

Dieser Sachverhalt wurde auf Grund der Aussagen der Zeugen … sowie der Einlassung der Angeklagten selbst festgestellt.

  1. Auf Grund dieser Ergebnisse der Hauptverhandlung weren [wären] die Angeklagten Driessen und Schnäbler freizusprechen, da ihnen eine bewusste und gewollte Teilnahme an den Vorgängen des 10.11.1938 nicht nachgewiesen werden konnte. … Die Einlassung des Angeklagten Schnäbler, dass er nur aus dienstlichen Gründen und erst nach der Vollendung des Zerstörungswerkes in der Wohnung Liefges gewesen sei, war nicht zu widerlegen, da keiner der Zeugen den Angeklagten während der Ausschreitungen gesehen hat. …
  2. Der Angeklagte Hunold hat sich des Landfriedensbruches und eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht, da er sich mit anderen zu einer Menschenmenge zusammengerottet hat, die Gewalttätigkeiten verübte, und gleichzeitig andere Personen um ihrer Rasse willen verfolgt hat. Mit Rücksicht auf das offene Geständnis des Angeklagten Hunold und die lange Internierungshaft, die erlitten hat, würde seine Strafe nicht über 6 Monate Gefängnis hinausgehen. Das Verfahren gegen den Angeklagten Hunold war dabei gem. [gemäß] §§ 1 und 3 des Straffreiheitsgesetzes vom 31.12.1949 einzustellen.
  3. Der Angeklagte Mieland hat sich in gleicher Weise wie der Angeklagte Hunold strafbar gemacht. … Die Strafe für den Angeklagten Mieland würde … den Rahmen von 6 Monaten Gefängnis nicht überschreiten, so dass das Verfahren gegen den Angeklagten Mieland auf Grund des Straffreiheitsgesetzes gleichfalls einzustellen [ist].
  4. a) Der Angeklagte Pascher behauptet, sich nicht daran erinnern zu können, dass er sich an den Ausschreitungen beteiligt habe, und will lediglich das Klirren der Fensterscheiben des Betsaales gehört und sich dann endgültig aus der Stadt entfernt haben. Er wird jedoch überführt durch die Aussagen des Mitangeklagten Hunold und der Zeugin Biesen [Frau Wilhelm Biesen aus Süchteln-Vorst], die ihn beide während der Exzesse in der Menschenmenge gesehen haben, sowie der Zeugin Mägdefrau [Charlotte Mägdefrau aus Süchteln], die ihn in der Wohnung Liefges erkannt hat, als dort die Einrichtung zerschlagen und auf die Strasse geworfen wurde. … Der Angeklagte Pascher hat sich demnach eines einfachen Landfriedensbruch und zugleich einer Verbrechens gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht. Er hat an einer Zusammenrottung teilgenommen, die Gewalttätigkeiten gegen Sachen begangen hat, Gewalttätigkeiten, die sich ausschließlich gegen den Besitz des jüd. [jüdischen] Bevölkerungsteiles richtete, weil diese Menschen der jüd. Religion und Rasse angehörten und der nationalsozialistische Staat sich an diesen schuldlosen Menschen dafür rächen sollte, dass der Legationsrat von Rath in Paris ermordet worden war. Dass dieses Vorgehen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit bedeutet, bedarf keiner weiteren Ausführungen.

    b) Der Angeklagte Pascher bestreitet, sich aktiv an der Zerstörungsarbeit in der Wohnung Liefges beteiligt zu haben. Er wird aber durch die glaubwürdigen, eidlichen Bekundungen der Zeuginnen Klevers und Jansen überführt [Juliane Klevers und Elisabeth Jansen aus Süchteln] … Der Angeklagte Wefers hat sich mithin in gleicher Weise wie der Angeklagte Pascher schuldig gemacht. Er ist mit einer Menschenmenge zum Hause Liefges gezogen, hat die Tätigkeit der fremden SA.- und SS.-Leute dadurch unterstützt, dass er 2 SA.-Männer mit einer gewissen Absperrung beauftragte, wodurch die Zuschauer vor Schaden geschützt und die Landfriedensbrecher vor Störungen bewahrt wurden, und hat sich selbst an den Gewalttätigkeiten beteiligt. Er hat sich bewusst in das verbrecherische Treiben eingeschaltet und sich damit des Landfriedensbruches und eines Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht.

    c) Die Angeklagten Pascher und Wefers waren daher aus dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 zu bestrafen. [Kontrollratsgesetze: 1945 bis 1948 vom Alliierten Kontrollrat erlassene Gesetze zur Überwindung des Nationalsozialismus und Militarismus in ganz Deutschland.]

Bei der Strafzumessung fiel erschwerend ins Gewicht, dass die Angeklagten durch ihre Tat wehrlosen Menschen in roher Weise die Heimstatt zerstört und den deutschen Namen schmählich besudelt haben. Gegen die Angeklagten sprach ferner der Umstand, dass sie sich auch heute noch nicht zu ihrer Tat bekennen.

Strafmildernd wurde berücksichtigt, dass die Angeklagten nicht aus verbrecherischer Gesinnung sondern verführt von einer falschen Ideologie und jedenfalls auf Befehl gehandelt haben.

Hierdurch erschien eine Strafe von 7 Monaten Gefängnis als angemessene und ausreichende Sühne. Gem. [Gemäß] § 2 Abs. 2 des Straffreiheitsgesetzes war diese Strafe … auszusetzen …“

Zitat Ende. (Landesarchiv Duisburg: Gerichte Rep. 001000185).

Quellen:

  • Der 10. November 1938 vor Gericht, in: RP 17.06.1950.
  • Landesarchiv Duisburg: Gerichte Rep 001000185.
  • Nachspiel zur Süchtelner „Kristallnacht“, in: Westdeutsche Zeitung 19.06.1950.
  • Süchtelner Nachrichten. Urteil in der Verhandlung über den 10. Nov., in: Dreistädte-Zeitung 20.06.1950.